Thüringischer Bildungsminister will Noten in "Talentfächern" abschaffen

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Die Studie "Verwendung eines polygenen Scores in einem Familiendesign zum Verständnis genetischer Einflüsse auf die Musikalität" scheint zu völlig absurden Schlussfolgerungen zu führen...

 

Die Erkenntnis: Eine aktuelle Studie unter Beteiligung des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik (MPIEA) hat einen Zusammenhang entdeckt zwischen einer Gengruppe (tausende Gene) und der Fähigkeit, Rhythmen, Melodien und Tonhöhen unterscheiden können.

Leipziger Volkszeitung am 17. November 2022: „Es ist das Mantra wohlmeinender Musikpädagogik: ‚Jeder kann singen!‘ Dabei lässt sich die Diskrepanz, die sich auftut zwischen dieser optimistischen Einschätzung und der Realität nur zwei Schlüsse zu: Entweder stimmt sie nicht, die Einschätzung, oder der oder die Musikpädagogin oder Musikpädagoge ist umso unfähiger, je häufiger er oder sie es behauptet. Denn die Feststellung richtet sich meist ja an solche, die sich beharrlich weigern, die eigene Sangesbegabung sich und/oder dem Pädagogen zu erschließen. Junge Menschen, denen die Liebe zur Musik auf immer durch fehlgeleitete Ermunterung vergällt wurde, und Erziehende, deren Enthusiasmus der Verbitterung bis Verbiesterung weicht, sind Folgeschäden. Doch es gibt Hoffnung. Ein internationales Forscherteam hat […] zweierlei herausgefunden: Erstens, Musikalität ist angeboren – woraus rückzuschließen wäre, dass sie es auch nicht sein kann. Und zweitens: Man kann sie messen. […] ‚Der Wert kann zuverlässig verwendet werden, um die genetischen Grundlagen individueller Unterschiede von Musikalität zu entschlüsseln‘, verspricht die Mitautorin Miriam Mosing. Und dann können sich Schülerinnen und Schüler wie Pädagogen und Pädagoginnen auf die Gene berufen und der fruchtlosen wechselseitigen Quälerei ein Ende setzen. Denn natürlich bestätigte die Forschung nur, was wir längst schon wussten: Nicht jede kann singen.“

  1. Die simple Gleichsetzung von sängerischem Können und Musikalität ist falsch.
  2. Aus „Musikalität ist angeboren“ zu schließen, sie könne es auch nicht sein, ist falsch. Das ist genauso wie mit der Intelligenz: Angeboren ist ein gewisser Grad (der durch Umwelteinflüsse nicht unerheblich verändert werden kann). Deshalb spricht die Forscherin von individuellen Unterschieden.
  3. Aus der Studie den Schluss zu ziehen, dass Menschen, die genetisch bedingt weniger musikalisch sind, nun auch nicht musikalisch gebildet werden müssen, ist zynisch und menschenverachtend.
  4. Und um das Singen aufzugreifen: Wir wissen, dass selbst Menschen, die weniger gut singen, trotzdem gern singen. Und der Autor der LVZ hat darin durchaus recht: Das darf ihnen keine verantwortungsbewusste Musiklehrperson – wie wohlmeinend auch immer – austreiben.

Tagesschau.de am 27. November 2022: „Die Studie untersucht zudem, inwiefern die Gene mit der Erziehung zusammenwirken. Es zeigte sich eine Wechselwirkung: Menschen, die eine musikalische Veranlagung haben, wuchsen auch eher in einer Umgebung auf, die Musikalität fördert. Das liege daran, dass Eltern, die auch diese genetische Veranlagung haben und sie vererben, oft ein entsprechendes musikalisches Umfeld für ihre Kinder schaffen, erläutert Mosing. Bei Kindern mit hoher genetischer Disposition zur Musikalität ist es zum Beispiel auch wahrscheinlicher, dass sie im Laufe des Lebens Musikunterricht bekommen.“

  1. Der letzte Satz ist völlig abwegig: In Deutschlands allgemeinbildenden Schulen erhalten alle Kinder, unabhängig von Elternhaus und genetischer Disposition Musikunterricht. Das ist gut so und sollte so bleiben.
  2. Korrekt dürfte sein, dass eine musikalitätsfördernde Umgebung hilfreich ist, die Musikalität zu verstärken – allerdings völlig unabhängig von der genetischen Disposition. Insbesondere für Kinder und Jugendliche, die tatsächlich genetisch bedingt über etwas weniger Musikalität verfügen, sollte eine solche Umgebung geschaffen werden.

Stern.de am 09. Dezember 2022: „Bildungsminister Helmut Holter (Linke) überlegt ferner, die Noten in den Talentfächern Sport, Musik und Kunst abzuschaffen. ‚Kinder sind unterschiedlich veranlagt‘, sagte er im Interview mit den Zeitungen der Funke Medien Thüringen (Freitag). So könne Notendruck bei vielen Schülern den Bewegungsdrang eher hemmen. ‚Sie haben dann keinen Spaß an Sport.‘ Zensuren seien deswegen in bestimmten Schulfächern, wenn sie einzig das Talent bewerten, nicht nötig. Eine entsprechende Änderung strebe er noch in der aktuellen Amtszeit an, wenn es im Einklang mit der Kultusministerkonferenz möglich sei.“

  1. Auch der thüringische Kultusminister scheint von der Studie gehört zu haben. Da wird Musik dann zum Talentfach. Welches Fach ist das dann nicht? (Bereits vor zwei Jahren ging eine andere Studie durch die Presse, die genau diesen Zusammenhang in Bezug auf die Mathematik festgestellt hat.) Wenn er also die Noten abschaffen will in den von ihm definierten Talentfächern, dann muss er sie auch abschaffen in den übrigen Talentfächern, also allen.
  2. Die Aussage, dass der Notendruck im Sportunterricht bei vielen Schüler:innen den Bewegungsdrang hemmt und sie dann keinen Spaß mehr am Sport haben, ist für das Lernen in Informatik oder Chemie, Physik oder Biologie exakt genauso zutreffend.
  3. Noten, die auf Klassenarbeiten oder mündlichen Abfragen beruhen, spiegeln eher kurzfristige Lerneffekte wieder, weniger ein nachhaltiges und anwendbares Wissen und Können. Eine Debatte über die Sinnhaftigkeit der Benotung in der Schule – und nicht in einzelnen Fächern – kann (und sollte) man also durchaus führen; Veranlagung und Talent taugen dafür jedoch nicht als Grundlagen.

(Georg Biegholdt)